Die Beweiswürdigung im österreichischen Strafrecht
Um Einblick in die Praxis des österreichischen Strafverfahrens zu gewinnen, sind oft konkrete Beispiele geeignet, auf die Besonderheiten im österreichischen Strafrecht hinzuweisen. Dies auch deshalb, weil ein Verständnis dieser Besonderheiten die Prozessführung wesentlich mitprägen kann und soll.
An Fall des bekannten Unternehmers Gerhard Bruckberger, dessen Vertretung unserer Kanzlei zusammen mit Rechtsanwalt Dr. Herbert Eichenseder übernehmen durfte, wird beispielsweise die Macht des Richters erster Instanz deutlich. Denn in Österreich fehlt bei Kapitalstraftaten eine zweite Tatsacheninstanz, das heißt, dass die Berufungsinstanzen in die Beweiswürdigung der Verhandlungsrichter nicht mehr eingreifen. Die Tatsacheninstanz, also der Verhandlungsrichter, befasst sich mit der Aufnahme und Würdigung der Beweise und beendet das Verfahren mit einem Urteil. Die Revisionsinstanz überprüft das Verfahren und das Urteil in der Form eines Katalogs von Nichtigkeitsgründen.
Wesentlich ist also, dass die Beweise, also etwa die Befragung von Zeugen oder die Erstellung von Sachverständigengutachten in Österreich nur vom Verhandlungsrichter durchgeführt werden. Der Oberste Gerichtshof als zweite Instanz nimmt keine Beweise mehr auf, die Feststellungen des ersten Urteils werden (mit Ausnahmen) ungeprüft übernommen.
Diese fehlende zweite Tatsacheninstanz führt dazu, dass die Würdigung der Tatsachen in der Instanz keiner oder kaum einer Kontrolle mehr unterworfen wird. Wie im Fall von Gerhard Bruckberger (siehe nachstehender Zeitungsartikel) beurteilten zwei Richter am Landesgericht für Strafsachen Wien den identen Sachverhalt unterschiedlich. In diesem Fall kann der Oberste Gerichtshof nicht in die Beweiswürdigung der beiden Richter eingreifen, die bei gleichem Sachverhalt zu einer unterschiedlichen Würdigung der Beweise kamen.
Der Fall Bruckberger ist in dieser Hinsicht wohl sehr selten und eine Lösung des Problems angesichts der fehlenden zweiten Tatsacheninstanz problematisch.